Ryan Garcia: Zwischen Genie und Wahnsinn

Der Sieg über Devin Haney ist der bisher größte Triumph für Ryan Garcia. Doch Dopingvergehen und erratisches Verhalten von „King Ry“ beschmutzen seine Krone. Was ist los bei dem Jungstar?

Am 20. April besiegte Ryan Garcia (l.) mit einer starken Leistung Devin Haney (r.) per Majority Decision. (Foto: Getty Images / Cris Esqueda)

Barclays Center in New York am 20. April, es läuft das Ende der zwölften Runde zwischen Ryan Garcia und Devin Haney im Halbwelter. Es sind nur noch wenige Sekunden auf der Uhr, Garcia fühlt sich siegessicher und verspottet seinen Gegner, den er im Verlaufe des Kampfes drei Mal in den Ringstaub geschickt hat, indem er Tänze aufführt und ihm die Zunge rausstreckt. Tatsächlich erringt er einen Punktsieg, wenn auch „nur“ nach Majority Decision (114:110, 115:109, 112:112). Es ist das erste Profiduell zweier Jungstars, die bereits sechs Mal als Amateure den Ring teilten: Drei der Fights gewann Garcia, die andere drei Haney, der als inoffizielles „Rubber Match“ bezeichnete Profifight geht an „King Ry“. Der vorläufige Höhepunkt seiner Karriere.

Spulen wir fast genau ein Jahr zurück, zum 22. April 2023. Damals steht Garcia mit seinem Leichtgewichts-Rivalen Gervonta Davis im Ring. Oft haben sich die beiden herausgefordert, Garcia sich über die Körpergröße seines neun Zentimeter kleineren Rivalen lustig gemacht („Du wirst einen Treppenlift brauchen, um an mich heranzukommen“). Runde sieben ist aber gar nicht mehr zum Lachen für den „Stolz von Victorville“, als er von „Tank“ einen perfekt getimten Körperhaken erhält, der ihn mit ein paar Sekunden Verspätung in die Knie gehen lässt, wo Garcia ausgezählt wird. Der vorläufige Tiefpunkt seiner Karriere.

Jung, talentiert, vermaktbar

Garcias Geschichte bis hierhin im Schnelldurchlauf. Ein großes Talent als Amateur mit einer Bilanz von 215 Siegen bei 15 Niederlagen, 15 nationale Meistertitel. Profi mit 17, bald Vertrag bei Golden Boy Promotions von Oscar de la Hoya. Gleichzeitig wird der gut aussehende Youngster zu einem Publikumsmagneten, der vor allem das weibliche Teenager-Publikum begeistert, das sich normalerweise wenig fürs Boxen interessiert.

Garcia bedient die sozialen Medien geschickt und sammelt Unmengen an Followern, ohne einen einzigen Gürtel von Rang und Namen gewonnen zu haben. Mit seinen Social-Media-Einnahmen und Werbedeals wird er zum Top-Verdiener im Boxen, der nur von den Stars des Schwergewichts und Saul „Canelo“ Alvarez überflügelt wird. Apropos Canelo: Mit diesem trainiert er bei Star-Coach Eddy Reynoso und wird zum Protegé des Megastars.

Jungstar Garcia hat nicht zuletzt dank Social Media eine riesige Fangemeinde. (Foto: Getty Images / Carmen Mandato)

2020 ist er einer von vier jungen Boxern, die in den Medien zu den neuen „Four Kings“ stilisiert werden: Neben Garcia sind das Haney, Davis und Teofimo Lopez. Sie sind talentiert, sie sind vermarktbar und sie fordern einander ständig heraus. Einziger Haken an der Sache: Es kommt zu keinem Kampf zwischen ihnen. Lopez krönt sich im Oktober jenes Jahres mit einem Sieg über Vasiliy Lomachenko zum Top Dog im Leichtgewicht, verliert im November 2021 gegen One-Hit-Wonder George Kambosos jr. und verabschiedet sich ins Halbwelter. Haney wartet auf seine Chance und schwingt sich im Juni 2022 gegen Kambosos jr. zum Undisputed Champ im Leichtgewicht auf. Davis wechselt munter die Limits und erringt WBA-Titel im Superfeder, Leicht und Halbwelter.

Psychische Probleme und Angstzustände

Und Garcia? Für den ist eine Achterbahnfahrt angesagt. Im Januar 2021 besteht die erste große Bewährungsprobe gegen Luke Campbell mit Bravour und einem Traum-K.o. in Runde sieben. Danach nimmt er eine Auszeit und macht öffentlich, dass er unter psychischen Problemen und Angstzuständen leidet. An den Reaktionen zeigt sich, wie sehr der damals 23-Jährige polarisiert. Für die einen ist er ein mutiger Jungstar, der offen mit einem oft unterschätzten Leiden umgeht. Für die anderen ist ein Schaumschläger, der sich hinter einer Krankheit versteckt oder diese nur vorgibt.

„King Ry“ feiert seinen Sieg gegen Haney (Foto: Getty Images / Cris Esqueda)

Nach seiner Genesung fordert Garcia jeden heraus, von dem er sich einen vielbeachteten Kampf verspricht: Davis, Haney, Lomachenko, Manny Pacquiao. Es bleiben für Garcia jedoch nur zwei Pflichtsiege gegen die deutlich älteren Emmanuel Tagoe und Javier Fortuna im Jahr 2022. Der geltungsbewusste Jungstar zofft sich immer wieder mit de la Hoya, beschwert sich darüber, dass er als Zugpferd von Golden Boy Promotions nicht genug gute Kämpfe bekommt. Zwischenzeitlich verkracht er sich auch noch mit Reynoso und wechselt zu Joe Goossen. Angeblich hat Reynoso zu wenig Zeit für ihn.

Im April 2023 kommt das heiß erwartete Match gegen Davis zustande, das erste tatsächliche Aufeinandertreffen der „Four Princes“, das auch die Karriere von „King Ry“ anzählt. Immerhin: Mit 1,2 Millionen Buy-Ins ist es der populärste Kampf des Jahres 2023, obwohl kein Titel auf dem Spiel steht. Nach der Niederlage geht Garcia ins Halbwelter, wechselt zu Trainer Derrick James und knockt Oscar Duarte in der Achten aus. Als der ebenfalls aufgestiegene Devin Haney nur eine Woche später Regis Prograis um den WBC-Gürtel im Limit erleichtert, ist der Weg frei für das zweite „Four Princes“-Match.

Größter Showman im Boxen

Die Vorbereitung für den Kampf ist bizarr. Auf Garcias Social-Media-Accounts wird gepostet, dass er entführt worden sei, dass man seine digitale Identität gestohlen habe, dass er ermordet worden sei. Dann gibt es Videos, in denen er Verschwörungstheorien äußert. Zu einer Pressekonferenz reitet er auf einem Pferd ein, begleitet von Frauen in Hula-Hoop-Reifen. Es wachsen die Zweifel an der mentalen Fitness des Jungstars. „Als sein Freund würde ich ihn nicht kämpfen lassen“, meint Canelo. Luke Campbell ist anderer Meinung: „Ich glaube, er verarscht einfach jeden.“ Nach der Niederlage gegen Garcia habe er diesen besser kennengelernt. Im realen Leben sei der Knockouter aus Victorville ein netter Typ, auf seinen Social-Media-Accounts ein ganz anderer Mensch.

Tanzen, provozieren, auslachen: Ryan Garcia (r.) nutzte jede Chance, Devin Haney (l.) zu verhöhnen (Foto: Getty Images / Cris Esqueda)

Dann ist da noch das Wiegen. Zwei Tage davor wendet sich Garcia mit einem Deal an Team Haney: Für jedes Pfund zu viel auf den Rippen werde er Anteile der Börse an den Champ abgeben. Der siegessichere Haney geht darauf ein und bekommt 600.000 Dollar zugesprochen, als „King Ry“ 3,2 Pfund (= 1,45 Kilogramm) über dem Limit ist. Außerdem steht der Titel von da an nur noch für „The Dream“ auf dem Spiel. Der verlässt sich im Kampf nicht auf seinen starken Jab, sondern versucht den schlagstarken und schwereren Garcia erfolglos mit Haken in Bedrängnis zu bringen.

Garcia vermutet „Inside Job“

Auch ohne Titel ist der Sieg für Garcia wichtig. Bei einer Niederlage wäre er abgeschrieben gewesen, nun ist er ein brandheißer Contender. Doch der Triumph steckt auf wackeligen Füßen: Die Dopingtests der VADA für Garcia kommen positiv zurück. Es werden Spuren des Mittels Ostarine gefunden, das steroidähnliche Wirkung hat. Ein anfänglicher Verdacht auf das Steroid Nandrolon, auch 19-Nortestosteron genannt, bewahrheitet sich nicht. Garcia verlangt eine Untersuchung der B-Proben, die jedoch ebenfalls positiv waren.

Sein Anwalt versichert gegenüber ESPN: Die festgestellte Ostarine-Menge bewege sich „in der Höhe eines Milliardstel Gramms, die Herrn Garcia am Abend des Kampfes keinen leistungssteigernden Vorteil in irgendeiner Form brachte“. Zudem wisse man gar nicht, wann und wie der 25-Jährige das Mittel zu sich genommen habe. Der Boxer vermutet einen „Inside Job“, dass Haney mit jemandem aus seinem Team zusammenarbeitete, um ihm die Substanz unterzuschieben. Der wiederum betont, dass er aus diesen Gründen keine Lust auf ein Rematch mit Garcia habe: „Wir haben den Typen betrügen sehen, er hat seinen Charakter gezeigt, was für ein Mensch er ist.“

„Ich beerdige den Kerl“

Garcias Verhalten wiederum facht die Zweifel an, ob bei ihm im Oberstübchen noch alles in Ordnung ist. Er verbreitet Verschwörungstheorien zu dem Positivtest, attackiert die VADA und lässt die wilden Geschichten zur Vorbereitung des Fights wieder aufleben. „Wenn ich auf Steroiden gewesen wäre, dann wäre ich in wesentlich besserer Form gewesen“, tönt der Boxer im „Fully Tilted“-Podcast. „Ich habe im Camp jeden Tag getrunken und Gras geraucht, noch nicht mal am Kampftag mit damit aufgehört. Ich bin total high in den Ring gestiegen und habe ihm den Arsch versohlt.“

Während die Boxwelt noch abwartet, ob Garcia gesperrt und der Kampf zu einem „No Contest“ erklärt wird, fordert „King Ry“ wieder fleißig Leute heraus. Sein neuestes Lieblingsziel: Errol Spence jr., der 2023 das Undisputed-Match im Welter gegen Terence Crawford verlor, früher von Derrick James trainiert wurde und sich gerade mit diesem in einem Rechtsstreit über ausstehende Honorare befindet. Garcia will seinen Coach im Ring rächen: „Ich meine es todernst. Er hat Geld von meinem Trainer geklaut. Der Typ ist einfach ein Stück Scheiße. Crawford hat nicht genug getan; ich beerdige den Kerl.“ Große Worte von einem Jungstar zwischen Genie und Wahnsinn. Falls Garcia Pech hat, wird der Dopingskandal jedoch ihn selbst vorher beerdigen.

Text: Nils Bothmann

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