Gualtieri vs. Falcao: Zeitenwende im Mittelgewicht

Am 1. Juli bekommt AGON-Fighter Vincenzo Gualtieri die Chance seines Lebens. Gegen den Brasilianer Esquiva Falcao geht es um die IBF-WM im Mittelgewicht. BOXSPORT checkt die Chancen beider Kämpfer und verrät, wer die Nase vorn hat.

Vor dem Duell zwischen Vincenzo Gualtieri und Esquiva Falcao herrscht Aufbruchstimmung im Mittelgewicht. Die Gewichtsklasse befindet sich mitten in einer Zeitenwende. Der langjährige Dominator Gennady Golovkin ist mittlerweile 41 Jahre alt und hat seine WM-Titel nach Version von WBA und IBF niedergelegt. Ex-WBO-Champ Demetrius Andrade ist ins Supermittel aufgestiegen. Und WBC-Weltmeister Jermall Charlo ist so inaktiv, sein letzter Kampf war im Juni 2021, dass einige Boxfans ihn sogar schon vergessen haben dürften. Das eröffnet gleichzeitig neuen Gesichtern Chancen im traditionsreichen Limit bis 72,574 Kilogramm.

Vincenzo Gualtieri aus Deutschland und Esquiva Falcao aus Brasilien sind zwei davon. Sie stehen sich heute, am 1. Juli, im Ring gegenüber: In Wuppertal boxen sie um den nun vakanten IBF-Titel. In Wuppertal? Ja, denn die Berliner Promotion AGON Sports von Ingo Volckmann hat sich Anfang Mai bei einer Purse Bid gegen Bob Arums US-Riesen Top Rank durchgesetzt und die Rechte am WM-Duell für 414.000 US-Dollar ersteigert. Der Fight steigt damit in Gualtieris Heimatstadt. Dort darf der Wuppertaler in der rund 3.000 Zuschauer fassenden Unihalle mit lautstarker Unterstützung rechnen. Und er könnte der erste deutsche Mittelgewichtsweltmeister seit Felix Sturm 2014 werden. Dafür muss Gualtieri (Platz 3 der IBF-Rangliste) aber zunächst am unbequemen Falcao (IBF-Nr. 1) vorbei. Keine leichte Aufgabe. Aber wer hat am 1. Juli die besseren Karten? Das wollen wir im BOXSPORT-Check klären.

ERFAHRUNG

Als Amateur schaffte es Esquiva Falcao (l.) 2012 bis ins olympische Finale, wo er Ryota Murata (2.v.l.) unterlag. Der Usbeke Abbos Atoev (2.v.r.) und der Brite Anthony Ogogo (r.) komplettierten seinerzeit das Podium in London.  (Foto: IMAGO / AFLOSPORT)
Als Amateur schaffte es Esquiva Falcao (l.) 2012 bis ins olympische Finale, wo er Ryota Murata (2.v.l.) unterlag. Der Usbeke Abbos Atoev (2.v.r.) und der Brite Anthony Ogogo (r.) komplettierten seinerzeit das Podium in London. (Foto: IMAGO / AFLOSPORT)

Vincenzo Gualtieri war ein erfolgreicher Amateur in Deutschland und bestritt rund 100 Kämpfe im olympischen Boxen. Dabei konnte er einige Erfolge verbuchen, wurde unter anderem Deutscher Meister der Junioren sowie in der Klasse U21. 2012 gewann er Silber bei den Deutschen Meisterschaften der Elite, wurde im gleichen Jahr auch Mannschaftsmeister in der Box-Bundesliga mit dem Velberter BC. 2015 gab Gualtieri als Schützling von Graciano Rocchigiani sein Profidebüt und ist seitdem in 21 Kämpfen ungeschlagen (ein Unentschieden). Gegner von echter internationaler Klasse fehlen aber noch im Kampfrekord des 30-Jährigen.

Auch wenn Gualtieri einiges an Amateurerfahrung vorweisen kann, zieht er in dieser Kategorie gegen Esquiva Falcao den Kürzeren. Denn der 33-jährige Brasilianer war in seinem Limit einer der absoluten Top-Athleten. 2012 gewann Falcao Olympiasilber. 2011 holte er WM-Bronze. Profi wurde der Rechtsausleger im Februar 2014 bei der US-Promotion Top Rank. Seitdem boxte Falcao 30 Mal und gewann jeden seiner Kämpfe. Echten Top-Gegnern musste aber auch er sich noch nicht stellen. Hier sind also beide noch den Beweis schuldig, dass sie auf höchstem Niveau bestehen können.

BOX-SPORT-URTEIL: Falcao hat in puncto Erfahrung die Nase vorne. (Gualtieri – Falcao, 0:1)

KAMPFSTIL

Esquiva Falcao (r.) ist "Southpaw", boxt also aus der Rechtsauslage, was Vincenzo Gualtieri vor eine besondere Herausforderung stellt. (Foto: IMAGO / USA TODAY Network)
Esquiva Falcao (r.) ist „Southpaw“, boxt also aus der Rechtsauslage, was Vincenzo Gualtieri vor eine besondere Herausforderung stellt. (Foto: IMAGO / USA TODAY Network)

Gualtieri ist ein technisch gut ausgebildeter Distanzboxer. Er arbeitet viel hinter seinem starken Jab, der oftmals schon fast alleine ausreicht, um Runden zu gewinnen. Zudem boxt der Wuppertaler geduldig, sucht sich die Spots für seine Angriffe mit der rechten Schlaghand klug aus. Defensiv verlässt sich „Il Capo“ häufig auf seine Reflexe und seine Beinarbeit. Er lässt die Gegner mit hängender Deckung kommen, weicht aus und versucht dann, saubere Konter zu setzen. So hat er oft das Überraschungsmoment auf seiner Seite, auch wenn der Stil dadurch riskant ist.

Damit weist er durchaus Parallelen zu Falcao auf. Denn auch der Mann aus Vitoria boxt oft offen, mit hängender Deckung und lockt seine Gegner. Im richtigen Moment kann der Brasilianer aber regelrecht explodieren. Einer seiner großen Pluspunkte: Er schlägt sehenswerte und variable Kombinationen. Gerade aus der Rechtsauslage schafft er damit Winkel, die für seine Kontrahenten oft nur schwer zu durchschauen sind.

BOX-SPORT-URTEIL: Vorteil Falcao, weil er der bessere Puncher ist. (Gualtieri – Falcao, 0:2)

AUSDAUER

Vincenzo Gualtieri will „Il Capo“, der Chef im Ring sein. Dafür kontrolliert er den Kampf gerne mit seinem Jab, um dann geduldig die Spots für seine Angriffe mit der rechten Schlaghand auszuwählen. (Foto: IMAGO / Torsten Helmke)
Vincenzo Gualtieri will „Il Capo“, der Chef im Ring sein. Dafür kontrolliert er den Kampf gerne mit seinem Jab, um dann geduldig die Spots für seine Angriffe mit der rechten Schlaghand auszuwählen. (Foto: IMAGO / Torsten Helmke)

Gualtieri ist konditionell ein Top-Athlet und ging in jedem seiner letzten fünf Kämpfe über die volle Distanz von zwölf Runden. Dabei wirkte er auch in der Schlussphase meist noch hellwach und fit. Falcao hingegen musste noch nie mehr als zehn Runden boxen und auch das erst dreimal. Er kann zwar genau wie Gualtieri ein gutes Tempo gehen, aber den Beweis, dass auch er in den „Championship Rounds“ noch voll da ist, muss der Brasilianer erst mal erbringen.

BOX-SPORT-URTEIL: Vorteil Gualtieri (Gualtieri – Falcao, 1:2)

TAKTIK

Falcao ist als eher langsamer Starter bekannt. Das sollte Gualtieri ausnutzen. So hätte er die Chance, früh einige Runden zu bunkern. Aus deutscher Sicht wird sehr viel von Gualtieris Jab abhängen. Doch es wird nicht leicht, die Führhand gegen den Rechtsausleger Falcao zu etablieren. Zusätzlich sollte „Il Capo“ bei Gegenangriffen auf Konter mit der rechten Geraden setzen. Grundsätzlich eine gute Waffe gegen Southpaws, könnte sie hier zum Schlüssel für ihn werden. Falcao muss als Auswärtsboxer Druck machen. Mit seinen Kombinationen und teils überfallartigen Angriffen kann ihm das auch gelingen. Sollte er Gualtieri damit überrumpeln und dessen Jab neutralisieren können, hätte der Brasilianer sehr gute Siegchancen.

Gelingt es Esquiva Falcao, so wie hier gegen Patrice Volny im November 2021, mit einem seiner überfallartigen Angriffe in den Infight zu kommen, steigen seine Siegchancen. (Foto: IMAGO / ZUMA Wire)
Gelingt es Esquiva Falcao, so wie hier gegen Patrice Volny im November 2021, mit einem seiner überfallartigen Angriffe in den Infight zu kommen, steigen seine Siegchancen. (Foto: IMAGO / ZUMA Wire)
BOX-SPORT-URTEIL: Vorteil Falcao (Gualtieri – Falcao, 1:3)

FAZIT

Unterm Strich erwartet BOXSPORT einen relativ knappen Kampf um die IBF-WM. Falcao muss auswärts boxen und ging zuvor noch nie zwölf Runden. Gualtieri fehlt dafür definitiv die Erfahrung gegen Top-Leute. BOXSPORT-Prognose: Der Wuppertaler wird gut starten und in der Anfangsphase einige Runden gewinnen. Ab den mittleren Runden kommt aber Falcao besser in den Fight und übernimmt das Ruder. Am Ende wird es für den AGON-Fighter nicht ganz reichen. Falcao gewinnt den Kampf knapp nach Punkten.

Text: Benjamin Stroka

AGON FIGHT PASS: Gualtieri vs Falcao

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