Seniesa Estrada: SUPERGIRL (Teil 1)

Am Anfang war das Boxen ein Kindheitstraum – heute ist Seniesa Estrada Weltmeisterin und zählt zu den Pound-for-Pound-Stars des Frauenboxens. Auf diesem langen Weg rettete sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihres Vaters Joe. 

Seit ihrem Sieg gegen Tina Rupprecht (l.) im März 29023 draf sich Seniesa Estrada Doppelweltmeisterin der WBA und des WBC im Minimum-Gewicht nennen. (Foto: GettyImages)
Seit ihrem Sieg gegen Tina Rupprecht (l.) im März 29023 draf sich Seniesa Estrada Doppelweltmeisterin der WBA und des WBC im Minimum-Gewicht nennen. (Foto: GettyImages)

Seniesa Estrada ist Weltmeisterin im Minimum-Gewicht der WBA und seit ihrem Sieg im März gegen Tina Rupprecht auch des WBC. Am 28. Juli verteidigt sie im Palms Casino Resort, Las Vegas zum ersten Mal beide Gürtel. Ihre Gegnerin ist die ehemalige IBF-Weltmeisterin im Junior-Fliegengewicht, Leonela Paola Yudica aus Argentinien. Dass Seniesa Estrada diesen Weg gegangen ist, der sie bis an die Weltspitze im Frauenboxen führte, liegt in Ihrer Kindheit begründet und hat viel mit ihrem Vater Joe zu tun.

Manchmal gibt es diese Momente im Leben. ­Nahezu unerklärlich und schicksalhaft. Dies war einer dieser besonderen Momente, in denen man nicht ­ahnen kann, was der Wunsch einer Achtjährigen für sie selbst und für ihren Vater eines ­Tages einmal ­bedeuten sollte. Und rückblickend zum Fixpunkt ­einer folgenreichen Veränderung wurde.

Als Seniesa und Joe Estrada eines Abends gemeinsam vor dem Fernseher sitzen und Boxkämpfe schauen, sagt das Mädchen zu seinem Vater, dass es gerne boxen würde. „Klar“, antwortet Joe. Und denkt sich: Sie ist noch ein Kind, sie wird es wieder vergessen und sich anderen Dingen zuwenden. Denn der Vater wollte nicht, dass seine Tochter kämpft. Nicht mit acht, nicht mit 18 Jahren. Niemals. Boxen war einfach nichts, was Frauen seiner Meinung nach tun sollten. Und zu dieser Zeit taten sie es auch nur selten.

Seniesa Estradas erster Besuch im Gym

Einige Tage später sahen sich Seniesa und ihr Vater erneut Kämpfe im Fernsehen an, und es kam die gleiche Frage: „Dad, darf ich boxen?“ Wieder und wieder stellte Seniesa ihm diese Frage. Schließlich gab Joe nach. Sie gingen in ein örtliches Gym in Alhambra, Kalifornien, und fragten den Coach, ob er auch Kinder trainieren würde. Der Trainer ­nuschelte: „So in der Art.“ Doch dann sah er Seniesa und sagte: „Nein.“ Nicht so jung. Kein Mädchen. Die beiden verließen das Gym wieder und Joe dachte, die Sache wäre nun erledigt. War es aber nicht. Seniesa begann fürchterlich zu weinen, und dem Vater brach es das Herz.

Joe kannte einen anderen Ort für seine vom Boxen besessene Tochter. Er brachte Seniesa ins Jugendzentrum Hollenbeck im Stadtteil Boyle Heights, East Los Angeles. Eine Gegend, die er in seinem Leben nur zu gut kennengelernt hatte – verbunden mit einer düsteren Vergangenheit, der er zu entkommen versuchte. Als Kind war Joe einst selbst in Hollenbeck aktiv. „Es war alles, was wir hatten, und es war kostenlos“, erinnert er sich. Er wusste, dass die Coaches Seniesa es dort versuchen lassen würden. Und er hoffte, dass mit dem Thema Boxen nach dieser Erfahrung endgültig Schluss sein würde.

Joe Estrada: „Ich hätte tot sein können“

Aber dieses Ende kam nie. Nach dem Training folgten Amateurkämpfe, dann eine Profikarriere. Heute ist Seniesa Estrada (24-0, 9 K.o.) als WBA-Championesse im Strohgewicht eine der besten Boxerinnen der Welt. Zuletzt bestritt sie am 25. März einen Vereinigungskampf mit WBC-Titelträgerin Tina Rupprecht aus Augsburg. Estrada siegte in der Save Mart Arena von Fresno, Kalifornien, einstimmig nach Punkten. Es war der jüngste Fight in einer Karriere, die der unnachgiebigen Tochter zu jeder Menge Ruhm verhalf und für ihren Vater noch viel mehr Bedeutung haben sollte. „Sie hat mir im Grunde das Leben gerettet“, sagt Joe. „Ich hätte im Gefängnis oder tot sein können.“ Dieses kleine Mädchen, dem er nicht erlauben wollte zu boxen und von dem er hoffte, dass es nach seiner ersten Tracht Prügel im Ring aufgeben würde, war schließlich seine Retterin.

Stets an der Seite seiner Tochter: Vater Joe (l.)
trainiert Seniesa Estrada seit ihrem neunten Lebensjahr. (Foto: GettyyImages)
Stets an der Seite seiner Tochter: Vater Joe (l.) trainiert Seniesa Estrada seit ihrem neunten Lebensjahr. (Foto: GettyyImages)

Heute, mit 30 Jahren, blickt Seniesa Estrada auf all die Jahre zurück, in denen ihr Vater an ihrer Seite war. Sie sieht ihre Beziehung mit viel größerer Klarheit als früher und weiß, was ihre Box-Leidenschaft für sie und ihren Vater bedeutet. „Die Leute sagten das immer, wenn sie meine Geschichte hörten“, berichtet Seniesa dem US-Sender ESPN. „Aber jetzt, als Erwachsene, denke ich mir: Wow, das Boxen rettete ihm das Leben. Ich habe das Gefühl, dass es so etwas wie Schicksal war.“

Die Geschichte des Vaters

Das erste Mal, als Joe Estrada Heroin nahm, war er elf Jahre alt. Es war 1969, er lebte damals in Aliso Village, wo die berüchtigten „Primera Flats“, eine kriminelle Straßengang in Los Angeles, ihr Unwesen trieben. Schon als Teenager war er bereits süchtig, erzählt Joe. Er sei in diesem Alter den Primera Flats beigetreten und habe sich den Spitznamen „Puppet“ (dt.: Puppe) gegeben. Jahrelang versuchte er, clean zu werden, nur um dann wieder einen Rückfall zu erleiden. Schließlich landete Joe 1979 wegen schweren Raubüberfalls im Gefängnis, drei Jahre später entließ man ihn wieder.

Er wurde clean, heiratete und begann, mit seinem Vater zu arbeiten. 1986 eröffneten sie ein Schildergeschäft, das später zu seinem Unternehmen wurde. Joe bekam drei Kinder, darunter Seniesa. Aber 1993 wurde er nach eigenen Angaben rückfällig und begann zu trinken, Kokain und Heroin zu nehmen. Seine Frau Maryann Chavez ließ sich von ihm scheiden, die Spirale setzte sich fort. „Ich habe das Jugendstrafsystem durchlaufen, ich habe das Bezirksgefängnis durchlaufen, ich habe das Staatsgefängnis durchlaufen, ich habe alles durchlaufen …“, sagt Joe gegenüber ESPN. Er habe bei sich aufgeräumt, nur um dann gleich wieder abzustürzen.

Schon als Kind ist Seniesa Estrada hart im Nehmen

Als Seniesa darauf bestand, zu boxen, sorgte Joe dafür, dass sie in Hollenbeck mit einem Jungen in den Ring steigen musste. Der Junge traf Seniesa mit einem Schlag in die Leber, der sie lähmte, und Joe dachte, dieser Schlag würde seine Tochter dazu bringen, dem Boxen abzuschwören. Doch stattdessen wütete Seniesa. Sie feuerte einen Hieb nach dem anderen ab – und brachte stattdessen den Jungen zur Aufgabe. Das war der Moment, in dem Joe wusste, und in dem womöglich auch Seniesa wusste, dass etwas Großes möglich war.

Etwa sechs Monate, nachdem die Neunjährige mit dem Boxen begonnen hatte, unternahm der Vater endlich etwas in seinem eigenen Leben. Joe machte einen kalten Entzug, gab die Drogen und den Alkohol auf. Er fand zur Religion und zum Frieden mithilfe der Heiligen Schrift. Und er hatte das Gefühl, für seine Tochter da sein zu müssen, sie anzuleiten, sie zu trainieren. „Gott sagte mir immer wieder in meinem Herzen: Hör auf – nicht für dich, sondern für deine Tochter.“

Seniesas Box-Leidenschaft eröffnete Joe ein echtes Ziel. Damals gab es nicht viele Mädchen, die kämpften, und das Training war alles andere als konsequent. So wurde er ihr Coach. „Von diesem Tag an widmete mein Dad mir sein Leben, seine Zeit, sein Geld. Wirklich alles, um mich dahin zu bringen, wo ich heute bin“, erinnert sich Seniesa. „Der Boxsport hat ihm wirklich das Leben gerettet.“

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