Seniesa Estrada: SUPERGIRL (Teil 2)

Im zweiten Teil des BOXSPORT-Reports über Seniesa Estrada lesen Sie alles über ihren Weg zur Profiboxerin, ihre sportliche Ausbildung in Hollenbeck und wie sie erst die Amateurwelt dominiert und schließlich mit der Unterstützung eines ehemaligen Weltmeisters bei den Profis reüssierte.

2019 gewinnt Seniesa Estrada (l.) ihren ersten Titel, als sie – im ersten Frauen-Titelkampf mit dreiminütigen Runden – Marlen Esparza im Fight um den WBA-Interims-Gürtel im Fliegengewicht besiegt. (Foto: IMAGO / USA TODAY Network)
2019 gewinnt Seniesa Estrada (l.) ihren ersten Titel, als sie – im ersten Frauen-Titelkampf mit dreiminütigen Runden – Marlen Esparza im Fight um den WBA-Interims-Gürtel im Fliegengewicht besiegt. (Foto: IMAGO / USA TODAY Network)

Als Zehnjährige ist Seniesa Estrada das einzige Mädchen, das in Hollenbeck trainiert. Außerdem ist sie oft das einzige Mädchen, wenn sie und die anderen Teammitglieder, die ebenfalls von Joe trainiert werden, in den Minivan ihres Vaters steigen und gemeinsam auf Tour gehen. Sie reisen immer wieder in verschiedene Bundesstaaten, um dort zu boxen. Es wird schließlich ihr Leben. Anfangs ist Seniesa so leicht, dass sie mit Schlüsseln, Handy und allem, was sie in ihren Taschen hat, auf die Waage steigt, um das vorgeschriebene Kampfgewicht zu erreichen. Sie macht weiter und weiter. Kampf um Kampf, Amateurtitel um Amateurtitel.

Seniesa will das Boxen zu ihrem Beruf machen, aber sie weiß nicht, wie. Sie schließt die High School ab und besucht das Pasadena City College, mit dem Ziel, Meteorologin oder Nachrichtensprecherin zu werden. Rückblickend lacht Seniesa über den Ehrgeiz, den sie damals für kurze Zeit entwickelte. Sie versucht, die Schule, einen Job als Personalcoach in einem Gym in Santa Monica sowie ihr eigenes Training unter einen Hut zu bringen. Langsam aber wird es ihr zu viel. 2011, mit 18 Jahren, wird sie Profi. Doch während es bei den Amateuren schon schwierig war, Fights zu bekommen, wird dies bei den Profis zu einer noch größere Herausforderung – vor allem, weil sie versucht, ihr Leben mit Schule und Arbeit in Einklang zu bringen. Schließlich entscheidet sie sich, ganz auf die Karte Boxen zu setzen.

Hall-of-famer beeindruckt: „Die Kleine kann kämpfen“

2014 beginnt Seniesa, regelmäßig in den Ring zu steigen. Ihr vierter Profikampf findet im Mai 2015 im Forum in Inglewood, unweit ihres Heimatortes, statt. Sie boxt im Vorprogramm von Gennadiy Golovkin vs. Willie Monroe Jr., bestreitet einen Sechs-Runden-Kampf gegen Carley Batey und gewinnt einstimmig nach Punkten. Es ist einer dieser Undercard-Fights, die in der Regel nur wenige im Publikum wirklich aufmerksam verfolgen. Doch ein Hall-of-Famer hatte die junge Boxerin unbewusst bemerkt.

Der frühere Halbschwergewichts-Champion Roy Jones Jr. ist vor Ort, um den Kampf zwischen Golovkin und Monroe später am Abend für Pay-TV-Sender HBO zu kommentieren. Er bereitet sich am Ring auf seinen Einsatz vor – und ist schließlich völlig abgelenkt von Seniesa, die er im Ring sieht. Zwei Tage später, auf einer Pressekonferenz zur Ankündigung des Duells zwischen Timothy Bradley Jr. und Jessie Vargas, macht Jones eine Bemerkung am Rande. In der Menge sieht er die 22-Jährige, die am Samstag zuvor im Ring gekämpft hatte. „Steh auf, steh auf!“, fordert Jones. „Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber die Kleine kann kämpfen.“ Er fragt nach ihrem Namen. „Alles war wie in Zeitlupe, von wem redet er bloß?“, erinnert sich Seniesa. „Ich habe mich umgedreht und gefragt, ob da noch jemand hinter mir sitzt.“

Seniesa Estrada wird zu „Superbad“

Roy Jones, einer der besten Pound-for-Pound-Boxer seiner Generation, ist einer ihrer Helden. Seniesa hatte keine Ahnung, dass er ihren Kampf zwei Tage zuvor beobachtet hatte. Und jetzt, vor einer fachkundigen Runde, die sich für einen großen Fight bei Bob Arums „Top Rank“ (der später einmal ihr Promoter werden sollte) eingefunden hatte, erhielt sie eine solch unerwartete Aufmerksamkeit. „Das war so unglaublich“, erzählt Joe, der an diesem Tag neben seiner Tochter saß.

Entdeckt von Roy Jones Jr., gesignt von Oscar de la Hoya – Seniesa Estrada  auf Du-und-du mit den ganz Großen. Hier posiert sie mit „The Executioner“, Bernard Hopkins (hinten l.). (Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Entdeckt von Roy Jones Jr., gesignt von Oscar de la Hoya – Seniesa Estrada (Mitte) ist auf Du-und-du mit den ganz Großen des Boxens. Hier posiert sie mit „The Executioner“ Bernard Hopkins (hinten l.). (Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Ein Jahr später boxt Estrada im Vorprogramm eines Box-Events in Inglewood, besetzt mit Top-Headlinern wie Gennady Golovkin und Roman Gonzalez. 2018 unterschreibt sie einen Vertrag bei Oscar de la Hoyas „Golden Boy Promotions“. Auf dem Weg dorthin legt sie sich den Spitznamen „Superbad“ zu. Eine Idee ihres Vaters und Coaches und eine Hommage an einen früheren Spitznamen von Sugar Ray Leonard, dessen Biografie sie immer wieder gelesen hatte. Fortan trägt Seniesa einen Umhang beim Walk-in, weil Joe will, dass sie sich abhebt und in etwas anderem als der typischen Boxerrobe zum Ring marschiert. „Ich dachte mir: ,Das hört sich gut an‘“, schmunzelt Seniesa. „Das ganze Superbad-Ding, ich liebe es.“

Seniesa Estrada vs. Miranda Adkins: In sieben Sekunden zum K.o.

2019 gewinnt sie ihren ersten Titel, als sie Marlen Esparza im Fight um den WBA-Interims-Gürtel im Fliegengewicht – dem ersten Frauen-Titelkampf mit dreiminütigen Runden – besiegt. Im darauffolgenden Jahr gelingt Estrada einer der schnellsten Knockouts der Box-Geschichte: Sie benötigt gerade einmal sieben Sekunden, um Miranda Adkins auszuschalten. Was Roy Jones auf einer Pressekonferenz vorausgesagt hatte, als noch niemand wusste, wer diese junge Frau überhaupt ist, wurde schließlich wahr. Und Estrada entwickelte sich zu einer der besten und aufregendsten Boxerinnen des Planeten.

Mehr als zwei Jahrzehnte später, nachdem sie zum ersten Mal in Hollenbeck aufkreuzte, sitzt ­Seniesa auf der anderen Straßenseite in einem gelben Jeep. Heute lebt sie in Chino, einem wohlhabenden Vorort von L.A. Die Erinnerung an die alte Zeit ist immer noch da. An ihre frühen Tage als Boxerin. An das Tacos-Essen im „Al & Bea’s Mexican Food“ nebenan. Das Mädchen von damals würde die Frau bewundern, die sie heute ist. Seniesa ist sich bewusst, wie viel Glück sie hatte, eine Mutter zu haben, die großen Wert auf akademische Bildung legte, und einen Vater, der sein altes Leben aufgab, um für seine Kinder, insbesondere für seine Tochter, etwas Besseres zu erreichen. Wenn sie zurückblickt, sieht Seniesa, wie sie sich entwickelt hat. Von einem Kind, das seinen Lehrern verheimlichte, dass es boxt, zu einer erfolgreichen Boxerin heute. Sie erinnert sich auch an die peinlichen Situationen, in denen ihre Eltern in die Schule gerufen wurden, weil sie wieder mal einen Jungen verprügelt hatte, der sie tyrannisierte.

Vater Joe ist in jedem Kampf an ihrer Seite

Als Seniesa heranwuchs, sah sie die Entscheidungen ihres Vaters nur als das an, was er tat. Sie ordnete ihre Boxergebnisse und die des Teams, das Joe trainierte, schlicht in Siege und Niederlagen ein. Jetzt ist es anders. Als erwachsene Frau begreift Seniesa, was Joe wirklich erreicht hat. Nicht nur für sie, sondern auch für all die anderen. Im Laufe der Jahre hat Seniesa Joe immer wieder Fragen zu seiner Vergangenheit gestellt. Dabei sprachen die beiden offen darüber, wie diese Vergangenheit zur ­Gegenwart führte. „Jetzt sehe ich es definitiv“, ­erklärt Seniesa. „Denn Joe war damals auch eine Vaterfigur für all die anderen Jungs in unserem Team, die keinen Vater in ihrem Leben hatten oder der sie nicht unterstützte.“

Joe ist ihr bis jetzt in jedem Kampf zur Seite gestanden, und er wird es auch in Zukunft tun. Er ist derjenige, der „Superbad“ den Umhang abnimmt, bevor die Glocke läutet. Und während er das tut, neigt er den Kopf zu seiner Tochter und spricht ihr diese Worte ins Ohr, eine Version des Bibelverses „Römer 8.31“: „Denk daran, Baby. Wenn Gott für dich ist, kann sich niemand gegen dich stellen.“ Er sagt diese Worte vor jedem Kampf, den sie gemeinsam bestreiten, und es ist dieselbe Botschaft, von der Joe sagt, dass sie ihm damals half, seinen Weg aus der Sucht zu finden. Eine Botschaft, die am Ende half, ihr beider Leben zu verändern.

Text: Frank Schwantes

Lesen Sie hier den ersten Teil des Reports

 

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